Wer an den Kindergarten zurückdenkt, mag sich vielleicht erinnern: Nicht immer waren die eigenen Freunde andere Kinder. So mancher hatte auch imaginäre Freunde. Vom menschlichen Spielgeselle über Fabelwesen bis hin zum Kuscheltier mit Charakter – der unsichtbare Freund ist kein seltener Begleiter im jungen Alter. Die Sorgen mancher Eltern, wenn sich die ausgedachten Freunde in die Familie mogeln, sind jedoch unbegründet: Imaginäre Freunde zeugen von viel Fantasie und Kreativität.
Das warst du, oder?
Wer mal eine Müslischüssel vom Tisch gefegt oder das Kaninchen im Garten hat entwischen lassen, kennt das Gefühl: Man möchte den Eltern nur ungern beichten, was da gerade geschehen ist. Wäre es nicht schön, wenn man in solchen Momenten die Schuld auf jemanden anderes schieben könnte? Auf einen treuen Sündenbock, der trotzdem noch mit einem spielt, zeigt man mit dem Finger auf ihn? So mancher weiß sich auf kreative Weise zu helfen – es erfindet einen solchen Gefährten einfach. Imaginäre Freunde sind keine Seltenheit in der Kindheit.
Psychologie-Professorin Marjorie Taylor, die sich in mehreren Studien mit dem phantasievollen Thema beschäftigt hat, bestätigt: rund 65% aller Kinder berichten von imaginären Freunden. Besonders Einzelkinder, aber auch ältere Geschwister neigen dazu, sich ihren eigenen Wegbegleiter einfach auszudenken. Dieser kann kunterbunt und flauschig, ganz und gar menschlich oder wie ein Superheld aussehen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Fühlst du auch so wie ich?
Früher hatten insbesondere Eltern Angst, dass das Herbeidenken eines imaginären Freundes ein Problem im jungen Leben ihrer Kinder sei. Der Wissenschaftler Jerome Singer von der Yale University bewies in mehreren Studien jedoch, dass sogar das Gegenteil der Fall ist: Kinder, die sich einen imaginären Freund ins Boot holen, sind besonders kommunikativ, kreativ und oft sprachlich begabt. Der imaginäre Freund ist nämlich viel mehr als nur ein Sündenbock: Durch ihn können Kinder ihren Gefühlen Ausdruck verleihen („Ich glaube, der Schnuffi ist ganz schön sauer!“ bei eigener Wut) oder fühlen sich weniger allein. Beispielsweise hilft ein solcher Begleiter, wenn die einst ungeteilte Aufmerksamkeit der eigenen Eltern durch ein jüngeres Geschwisterkind auf einmal geteilt werden muss.
Wo geht’s lang im Leben?
Spielkumpane, mutiger Begleiter, Schuldaufsichnehmer – imaginäre Freunde haben oft Eigenschaften, die man auch seinen realen Freunden zuschreibt. Hierzu gehört, dass man gemeinsam herausfindet, welchen Platz man auf dieser bunten Welt einnimmt. Gemeinsam erkundet man seine Interessen und Abneigungen, Ängste und Stärken. Freunde sind in diesem Prozess oft im wahrsten Sinne des Wortes wegweisend und helfen bei der Selbstfindung noch lange über die eigene Kindheit hinaus. Hier unterscheiden sich Freunde von imaginären Gefährten. Letztere bleiben oft nur für einen kurzen Zeitraum und verschwinden manchmal in die hintersten Ecken des eigenen Kopfes, sodass sich viele Kinder später nicht mehr als ihre temporären Mitstreiter erinnern. Es gibt jedoch auch prominente Beispiele, die noch im Erwachsenenalter mit Rat (und weniger Tat) zur Seite stehen. Insbesondere Woody Allen spielt gerne mit der Idee, wenn er beispielsweise Apothekerin Alice in dem Film „New York Manhattan“ mit einem Poster von niemanden geringerem als ihm selbst sprechen lässt. Das Blatt an der Wand wird zum geduldigen Zuhörer.
Kann es losgehen?
Freundschaft findet man also nicht nur in der eigenen Klasse, Nachbarschaft oder im Verein – auch im eigenen Kopf können erdachte Freunde einen begleiten. Hier kann es bunt zugehen: Vielleicht erinnert ihr euch noch an die bunte Fantasiewelt eurer Kindheit und möchtet diese auf Papier bringen? Möglicherweise habt ihr die passende Idee, unsichtbar und kunterbunt im selben Bild zu vereinen? Oder interessiert euch die schaurige Seite der menschlichen Einbildung? Kreativität, Materialen und Darstellungsform sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt!
Text: Lara Gahlow