Wie heißt du? Wo kommst du her? Was sind deine Hobbies? Diese drei Fragen standen auf einem kleinen Zettel, den ich in der Hand hielt, als ich zwischen Tischen in der Aula unserer Hochschule hindurchirrte und die Nummer suchte, die mir beim Betreten der Halle zugewiesen wurde. Um mich herum wurde schon aufgeregt gequatscht und mit den Zettelchen umhergefuchtelt. Irgendwann fand auch ich endlich den richtigen Tisch.

Das Mädchen, dem ich gegenüber Platz nahm, sah sehr ernst aus. Sie trug eine rosa Jacke, Brille und lächelte nicht, als ich einen flapsigen Witz machte, um das Eis zu brechen und eine Unterhaltung zu beginnen. Das kann ja heiter werden, dachte ich.

Beide hatten wir am „Finnish Friend Program“ teilgenommen, einer Initiative meiner Austauschuniversität in Rovaniemi, Finnland. Ja, ich weiß: Warum bin ich nicht nach Spanien oder Italien gegangen, irgendwohin, wo es warm ist? Ich kann es nicht wirklich sagen. Die skandinavischen Länder haben mich schon immer mehr interessiert. Wald, Elche, Schnee – das zog ich dem am Strand liegen und Sangria schlürfen vor.

Die Idee des Finnish Friend Programms war es nun, dass Austauschstudenten aus aller Welt mit finnischen Studenten in Kontakt kommen, Freundschaften schließen und zusammen Dinge unternehmen können. Annariia, wie sich das Mädchen mir gegenüber leise vorstellte,  und ich sollten jetzt Freunde werden. Ich fühlte mich wie bei einem schlechten Blind Date, nur das der Ausgang dieses Dates schon von der Hochschulverwaltung vorherbestimmt war.

Bevor ich nach Finnland gekommen war, hatte ich schon schlimme Vorurteile zu hören bekommen: Finnen sprächen nicht, und wenn dann nur, wenn sie betrunken sind. Ein Kommilitone erzählte mir nach seinem Auslandsaufenthalt, dass er, wenn er vielleicht noch ein Jahr länger in Finnland geblieben wäre, auch finnische Freunde gefunden hätte. Abgekühlte Nordlichter mit Sozialphobie also? In diesem Moment fühlten sich diese Vorurteile durchaus bestätigt an.

Steif arbeiteten Annariia und ich uns durch den Fragezettel. Danach versuchte ich es noch ein bisschen mit leichter Plauderei, aber Annariia starrte nur gelangweilt bis genervt auf ihre Uhr. Das war zumindest mein Eindruck. Nach etwa zwei Stunden war es dann endlich vorbei. Das erste Treffen verlief also mehr oder weniger unbeholfen. Trotzdem verabredeten wir uns bald zum Mittagessen in der Uni – da konnte es ja schlecht gewesen sein. Schließlich hatte auch Annariia sich für das Programm angemeldet, deswegen musste sie ja daran interessiert sein, neue Leute kennen zu lernen. In der Mensa holten wir uns etwas zu essen und setzten uns hin: peinliches Schweigen. Was jetzt sagen? Um die Stille zu füllen, plapperte ich einfach drauf los. Viele Menschen machen das. Lieber irgendwas sagen, als sich anzuschweigen. Annariia machte es mir nicht leicht. Wenn ich irgendwas erzählte, sah sie mich oft nur an. Ich wunderte mich und ja, verzweifelte auch ein bisschen. Informationen über sie selbst musste ich schon fast gewaltsam aus ihr herauspressen. Und das finnische Mädchen schien nicht aufzutauen.

Der Aha-Moment kam, als ich einen Kurs über interkulturelle Kommunikation in der Uni belegte. Denn obwohl Finnland und Deutschland geographisch nun nicht so weit voneinander entfernt liegen, gibt es doch einige Unterschiede in der Mentalität. Finnen, erzählte unser Dozent, mögen größtenteils keinen Small Talk und sind im Umgang miteinander mehr als höflich. Die Meinung von jedem, egal ob Mann, Frau oder Kind, wird gleichgeschätzt und deshalb finden die Finnen es unheimlich unhöflich, jemanden im Gespräch zu unterbrechen. Zumindest im Allgemeinen – Ausnahmen gebe es natürlich überall, so der Dozent.

Und dann wurden mir ein paar Sachen klar. Annariia war nicht schweigsam, sondern höflich. Wenn ich etwas erzählte, wartete sie erst, bis ich ausgeredet hatte, und antwortete dann. Smalltalk empfindet sie nach wie vor als unangenehm. Nachdem ich das mal kapiert hatte, konnten wir auf einmal ganz anders miteinander umgehen.

Je mehr ich mit Annariia zu tun hatte, desto mehr fiel mir auf, wie sehr ich es hasse, wenn Menschen im Gespräch nicht wirklich zuhören. Vielleicht mit halbem Ohr ein paar Stichworte herauspicken, aber dann nicht draufeingehen, sondern lieber wieder von sich erzählen. So nach der Art, als wenn ich grad sagen würde: „Oh, ich fühle mich gerade nicht so gut.“, und mein Gegenüber dann anfängt von seiner Salmonellenerkrankung von vor zehn Jahren zu erzählen. Annariia hört zu, denkt nach und antwortet dann. Und schweigen ist schön, manchmal. Zum Beispiel wenn man drinnen zusammen Tee trinkt und noch Mitte April zuschauen kann wie draußen der Schnee leise zu Boden fällt.

Nach und nach entdeckten wir, dass wir doch einiges gemeinsam hatten. Die Vorliebe für Metal- und Rockmusik zum Beispiel, außerdem einen ziemlich schwarzen Humor – und die Tatsache, dass wir beide etwas für die Farbe Rosa übrig haben. Völlig begeistert hatten wir eines Tages festgestellt, dass wir beide rosa Schuhe zu einem finsteren Metal-Band-Shirt trugen. Nach und nach gab es eigentlich keine Veranstaltung mehr, die wir nicht zusammen besuchten, seien es Konzerte, Partys oder eigentümliche finnische Aktivitäten. Eine meiner schönsten Erinnerungen ist, als wir mit einer Gruppe anderer Finnen in der Kälte draußen Eisfischen und Schlittenfahren waren und danach Würstchen und Stockbrot über einem Lagerfeuer gebraten haben – bei minus zehn Grad!

Ein halbes Jahr später verließ ich Finnland nach meinem Erasmus-Semester wieder und kehrte nach Deutschland zurück. Kontakt zu halten ist seitdem ein bisschen schwierig, da wir beide keine sonderlichen Telefon- oder Skypemenschen sind. Aber wir schreiben, schicken uns Songs, die wir gut finden und kommentieren lustige Sprüche auf Facebook. Wir verlieren uns nicht aus den Augen. Und wenn in Finnland wieder Winter wird, dann kommt Annariia mich auch in Deutschland besuchen, hat sie gesagt.

Text: Anna Gumpert