Exakt 9493 Kilometer trennen mich von meinem Freund Ángel. Ich wohne in Hannover, er in Mexiko-Stadt. Mit dieser Entfernung leben wir, seit wir uns kennen. Und so nervig die Distanz manchmal auch sein kann – sie ist es auch, die unsere Freundschaft zu einer ganz besonderen macht.

Ich habe Ángel vor über drei Jahren als 16-jährige Schülerin kennengelernt. Meine Intention dabei war tatsächlich nicht, eine Freundschaft fürs Leben zu schließen – ich wollte einfach mein Spanisch etwas verbessern. Da ich von der Sprache schon immer begeistert war, habe ich Spanisch als Unterrichtsfach in der zehnten Klasse dazugewählt und wollte auch außerschulisch an meinen Kenntnissen arbeiten.

Im Internet fand ich schnell ein paar kostenlose Seiten, auf denen man sich für solche Zwecke mit Menschen auf der ganzen Welt vernetzen kann. Ich klickte mich also durch verschiedenste Profile, schrieb mal hier, mal dort jemanden an und begann mit einigen kleine Gespräche zu führen. Innerhalb von zwei Wochen schrumpfte mein Postfach auf einen Chat zusammen: den mit Ángel. Er war damals 17, lebte in der Hauptstadt von Mexiko, liebte Kunst und seinen Kater, und stand kurz vor seinem Schulabschluss. Wir verstanden uns auf Anhieb und schrieben uns bald täglich.

Faszination und Skepsis

Unsere Freundschaft reifte langsam mit unseren Mails: Er erzählte mir viel von seinem Land, seiner Kultur und seinem alltäglichen Leben – und ich tat es ihm nach. Da er von Deutschland ungefähr genauso wenig Ahnung hatte wie ich von Mexiko, war dieser Austausch unglaublich spannend für beide Seiten. Doch obwohl sich vieles in unseren Ländern unterschied, ähnelte sich persönlich viel bei uns. Er war im Stress durch seine Abschlussprüfungen und auch ich lernte für Klausuren. Wir erzählten uns von unseren Freunden, wie wir unser Wochenende verbracht hatten oder auch von unseren Sorgen.

Meine Eltern hatten diesen Austausch anfangs mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis verfolgt. Den kulturellen Aspekt fanden beide spannend – dass heutzutage so etwas durch das Internet möglich ist auch. Aber während mein Vater vorsichtig beäugte, ob dieser Ángel denn auch wirklich existiere, hatte meine Mutter Angst, ich könne mich verlieben und erinnerte mich regelmäßig daran, dass Mexiko-Stadt weit weg ist. Glücklicherweise konnte ich beiden ihre Sorge nehmen: meiner Mutter, weil sich herausstellte, dass Ángel nicht an Mädchen interessiert war und meinem Vater, weil aus unserer Chat-Freundschaft bald eine Brieffreundschaft wurde.

Original aus Mexiko

Denn obwohl wir beinahe täglich in Kontakt waren, hatte unser Austausch etwas Unwirkliches. Wir waren so weit voneinander entfernt! Doch als der erste Brief von Ángel ankam, änderte sich vieles: Diesen Brief hatte er in den Händen gehalten! Dieser Brief war in Mexiko entstanden und nun lag er in meinem Briefkasten! Was so banal klingt, war tatsächlich ein unbeschreiblich tolles Gefühl. Ángel verzierte seine Briefe von nun an oft mit kleinen Zeichnungen und legte kleine selbstgemalte Bilder mit in den Umschlag. Ich schickte ihm Bilder aus meinem Leben und versuchte, die Hälfte des Briefes auf Spanisch zu verfassen. Leider brauchten die Briefe oft mehrere Wochen, aber wenn sie dann endlich ankamen, wusste man, dass sich das Warten wieder gelohnt hat.

Unser Kontakt verfestigte sich immer weiter: Zuerst machte Ángel seinen Schulabschluss und begann in Mexiko-Stadt Kunst und Design zu studieren. Er erzählte mir, wie er seinen Freund kennenlernte und wie es ihm mit seinem Studium erging. Und auch bei mir rückte das Abitur immer näher und meine Pläne, wie es weiter gehen sollte, wurden immer konkreter. Ich hatte schon früh überlegt, ein Auslandsjahr zu machen – dass es dann Mexiko wurde, war mehr eine Verkettung von Zufällen, als tatsächlich geplant. Aber als feststand, dass ich nach Mexiko reisen würde, erzählte ich natürlich sofort Ángel davon. Von da an fieberten wir unserem ersten persönlichen Treffen entgegen.

Avocado-Milchshakes in Mexico City

Ich reiste also ab. Doch von da an, lief leider nicht mehr alles so geradlinig. Zwar war ich sofort von dem Land, den Leuten und meinem Projekt begeistert, aber ich habe es mental nicht gut verkraftet, so lange und so weit weg von zu Hause zu sein. Mein Herz hing an meiner Familie, meinen Freunden und meinem Freund in Deutschland. Ich merkte, dass ich mich zu sehr auf dieses Jahr versteift hatte und es mir selbst nicht erlaubt hatte, diesen Plan infrage zu stellen. Bald traf ich die Entscheidung, mein Auslandsjahr abzubrechen – aber natürlich nicht, ohne Ángel vorher gesehen zu haben!

Ich war in Puebla, einer Großstadt circa zwei Stunden von Mexiko-Stadt entfernt. Ich rief also Ángel an und verabredete mich mit ihm für das nächste Wochenende. Als ich schließlich im Bus auf dem Weg zu ihm saß, war ich mächtig nervös. Wie es wohl sein würde, ihn persönlich zu sehen? Angekommen in Mexiko-Stadt stellte ich schnell fest, dass alle Sorgen unbegründet waren. Wir fielen uns in die Arme und verstanden uns auf Anhieb. Was folgen sollte, war definitiv eines der großartigsten Wochenenden meines Lebens! Wir trafen uns mit seinem Freund Daniél und einer weiteren Freundin und streunten durch die Straßen der gigantischen Stadt. Ich entwickelte eine Abneigung gegen die Metro, die schon außerhalb der Stoßzeiten völlig überfüllt war, lief mit meinen Freunden über die großen Plätze, bestaunte den Palacio Bellas Artes und probierte in einem alternativen Szeneviertel einen Avocado-Milchshake. Abends gingen wir feiern und amüsierten uns prächtig. Am nächsten Tag fuhr ich mit Ángel auf den Torre Latino, eines der höchsten Gebäude Mexikos. Und während wir Eis essend über die Dächer der Stadt schauten, brachten wir uns gegenseitig deutsche und spanische Wörter bei.

Leider kam der Abschied sehr schnell. Aber er hätte herzlicher nicht sein können. Und wir wissen, dass wir uns wieder sehen werden!

Text: Mariel Reichard